Spaziergangstagebuch 12

Von Niederursel nach Frankfurt

Der Anlass für diesen Spaziergang war ein trauriger. Ende letzten Jahres verstarb eine ehemalige Kollegin, die ich sehr schätzte. An diesem Tag sollte die Beerdigung stattfinden. Beerdigungen gehören nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Als Belohnung nahm ich mir vor, den Weg zurück zu spazieren. Darauf freute ich mich, kenne ich diese Gegend im Norden von Frankfurt so gut wie nicht. 8,5 km, sagte Maps, nach Frankfurt. Eine überschaubare Entfernung. Dass es am Ende, als ich wieder zuhause war, doppelt so viele waren, hatte ich erwartet.

Ich stellte den Wecker, wollte rechtzeitig losfahren, nicht ohne Frühstück. Das Wetter war perfekt für einen langen Spaziergang, Wolken, gelegentlich Sonne, kein Regen, angenehme Temperatur. Pünktlich ging ich los, zahlte stolze 3,40 € und fuhr mit Straßen- und U-Bahn nach Niederursel. Dort angekommen wurde mitgeteilt, dass hier die Tarifgrenze sei. Wehmütig dachte ich an das Neun-Euro-Ticket. Ich stieg aus und fand mich in Terra Incognita. Erst einmal vorher war ich in Niederursel gewesen. Bei eben jener Kollegin, die jetzt beigesetzt werden sollte. Eine weitere Kollegin und ich waren zu Kaffee und Kuchen geladen. Es ist viele Jahre her.

Ich ließ ich mich zum Friedhof leiten durch einen sehr dörflichen Stadtteil. Das Navi schickte mich, entlang des Urselbachs, durch Wiesen und Felder. Ein imposantes Backsteingebäude forderte meine Aufmerksamkeit. Der Weg zog sich, kein Friedhof. Plötzlich eine fast 360° Kehre, zurück in den Ort, den ich bereits hinter mir gelassen hatte. Das muss ein Umweg sein, dachte ich. Mittlerweile hatte die Trauerzeremonie bereits begonnen. Dann fand ich endlich den Friedhof – und konnte keine Trauergemeinde entdecken. Nur an einem frischen Grab standen eine handvoll Leute, von denen ich niemanden kannte. In der Kapelle war es totenstill, ein Mann im schwarzen Anzug schaute mich durch das Fenster an, während er irgendwas geräuschvoll von hier nach dort räumte. Sonst war nichts zu sehen oder hören. Unverrichteter Dinge kehrte ich um. Irgendwas an meinen Informationen hat nicht gestimmt.

Der Spaziergang begann. Zunächst entlang des Praunheimer Wegs, der alles andere als ein Weg war, sondern eine vielbefahrene Straße. Jemand hatte seinen Traum vom Knusperhäuschen verwirklicht. Es ging eine Weile entlang der Straße weiter und ich befürchtete, dass das jetzt bis Frankfurt so ginge. Aber dann schickte mich das Navi nach links, wieder entlang eines Baches, des Steinbachs. Ein ruhiger Weg, abseits der Autos. Zwei Männer sitzen auf der Lehne einer Bank, Bierflaschen in der Hand. In Praunheim schickte mich das Navi falsch auf die Straße In der Römerstadt. Dort eine Siedlung von Ernst May aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts. Die Häuser mit flachen Dächern. Als May diese Bauform einführte, rebellierte die Dachdeckerinnung. Fortan wurden wieder Spitzdächer gebaut. Das selbe geschah, als er die Plattenbauweise verwendete, als deren Erfinder er gilt. Sein Credo war, schnell bezahlbahren Wohnraum zu schaffen. Gegen die Platten stemmte sich die Maurerinnung. Also wurde wieder gemauert.

Ich fand den richtigen Weg, weg von der Straße. Wieder ging es grün weiter, immer entlang des Steinbachs. Dann eine Brücke, ich war an der Nidda. In einem Nebenarm ließen sich zwei Schwäne treiben. Jenseits der Nidda ein Park, der Volkspark Niddatal. Ich war erfreut, den Park kannte ich nur peripher. War einmal dort mit einer Freundin laufen, lang ist es her. Wir fanden fast nicht mehr raus damals, orientierten uns am Fernsehturm und der Skyline. Das der Park groß ist wusste ich, dass er so groß ist jedoch nicht. Eine Frau mit drei freilaufenden Hunden kreuzte meinen Weg. Die Tiere interessierten sich nicht für mich. Der Park wollte nicht enden, mir war`s recht. Irgendwann ein Hinweis auf den Ausgang Bockenheim. Ich konnte das Navi ausschalten, ab dort würde ich mich auskennen. Dass irgendwann eine Autobahnbrücke den Park kreuzen würde, war erwartbar.

Am Ausgang Bockenheim empfing mich das Yollow Submarine. Bald war ich an der Sophienstraße. Hier wohnte einst eine enge Freundin von mir, die genauso hieß wie die Straße. Wir haben uns oft gesehen, bis sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, wieso auch immer. Sie wohnt dort auch nicht mehr. Auf der Leipziger Straße suchte ich ein Café, fand keins. Das einzige, das ich kannte, hatte geschlossen. Die Gegend war mir vertraut, habe ich doch vor einigen Jahren mal hier gearbeitet. In der Adalbertstraße entdeckte ich einen kleinen Bäcker mit zwei winzigen Tischen und einer schmalen Bank an der Wand. Ich bestellte einen großen Cappuccino im Pappbecher und ein riesiges Stück Kirschstreussel, das ich zur Hälfte schaffte. Es tat gut zu sitzen, der Kaffee schmeckte und tat was er tun musste.

Gestärkt ging es zurück über den Bockenheimer Campus. An der Senckenberganlage die legendäre Adorno-Ampel. Der berühmte Philosoph und Soziologe soll gesagt haben, wenn die Studenten da sind wo sie sein sollen, nämlich in Gedanken, dann müsse dort eine Ampel hin. Adorno wurde der Wunsch erfüllt. Niemand weiß, wieviel gedankenversunkenen Studentinnen und Studenten dadurch das Leben gerettet wurde. Weiter durch vertrautes Terrain, den Kettenhofweg, mittlerweile zur Fahrradstraße umgestaltet. Früher mein Arbeitsweg zum Suhrkamp Verlag in der Lindenstraße. Da Adorno schon erwähnt wurde, in dieser Straße hat er mit seiner Frau Gretel gewohnt. Vom ursprünglichen Plan zur Kleinmarkthalle zu gehen, um diverse Zutaten für Harissa zu besorgen, bin ich abgekommen. Die Beine waren zu schwer. Statt dessen auf dem Markt an der Schillerstraße einen Riesling getrunken. Für mich der Abschluss des kleinen Ausflugs, der mir wieder mehr von der Stadt gezeigt hat, in der ich schon seit über zwanzig Jahren lebe. Der Heimweg nach Bornheim ist Routine und nicht der Rede wert. Zuhause hatte ich 23000 Schritte und 17 km in den Beinen und fühlte mich lebendig.

Mach`s gut 2022

Der letzte Tag des Jahres 2022. Gut dass es vorbei ist, ließe sich sagen, aber was kann das Jahr dafür dass die Zeiten so scheiße sind? Trotzdem habe ich erstmals Vorsätze, ob gute oder vergebliche, wird sich zeigen. Aber immerhin eine Möglichkeit, so zu tun, als es gäbe etwas wie Zukunft.

Wie in den letzten Jahren auch, bin ich alleine zuhause. Früher wäre das undenkbar gewesen, aber mittlerweile hat es sich bewährt. Draußen wird geballert wie blöde, die Ballermänner und Frauen mussten ja zwei Jahre Abstinenz üben. Spotify spielt mir Amanda Shires vor, eine der musikalischen Entdeckungen des letzten Jahres. Weitere Entdeckungen The Smile und Jenny Hval. Musik, zu allen Zeiten, ob gute oder schlechte, bereichernd, eine zuverlässige, unverzichtbare Begleiterin, oft auch Trost. Seit zwei Jahren geplante Konzerte konnten endlich stattfinden. Auch das Patti-Smith-Konzert in der schönen Jahrhunderthalle. Ein Geburtstagsgeschenk für eine liebe Freundin, bereits vor zwei Jahren. Tolles Konzert einer beeindruckenden Künstlerin, lebende Musikgeschichte. Bin sehr froh, sie noch erlebt zu haben. Die Freundin revanchierte sich ebenfalls mit einer Konzerteinladung, The Cure in der Festhalle. Von der Band haben wir zwar nicht viel gesehen, aber gehört um so besser. Und das war gut, sehr gut. Aber das Konzerthighlight für mich, Fucked Up im Kesselhaus in Wiesbaden. Diese von mir sehr geschätzte kanadische Punkband habe ich mir schon lange live gewünscht. Und das in einem überschaubaren Rahmen mit etwa 200 Leuten in einem guten Club, zu einem Viertel des Ticketpreises. Es war wie erwartet, laut, schnell, atemlos, schweißtreibend, nicht nur wegen der Musik. Auf der Bühne heizte die Band ein, draußen die Sonne am bislang heißesten Tag des Jahres. Wem diese Band unbekannt ist, und das dürften viele sein, sei das phantastische Album “David Comes To Life“ empfohlen. Ein Meisterwerk.

Viel geschwitzt habe ich auch am katalonischen Mittelmeerstrand, Füße ins Meer halten und den Rest auch. Der erste Urlaub seit etlichen Jahren, mit Flugzeug, Strand und einer fremden Sprache. Nicht nur Patti Smith und The Cure haben M. und ich gemeinsam erlebt, nein auch den Urlaub zusammen verbracht. Erstmals, ein kleines Abenteuer. Aber wir können gut Radtouren machen und lange Spaziergänge, ohne uns auf die Nerven zu gehen. Wenn das klappt, kann man auch problemlos einen gemeinsamen Urlaub machen. Und so war`s dann auch. Jetzt bin ich auch mal durch Barcelona spaziert. Zurück aus dem Urlaub betrat ich eine Baustelle statt einer Wohnung. Im September wurde im ganzen Haus die Heizungsanlage ausgetauscht. Living on a Baustelle. Ebenfalls nach dem Urlaub war ich auch meinen kleinen Aushilfsjob in einer Buchhandlung los. Der neue Inhaber arbeitet lieber mit hübschen jungen Frauen als mit alten Säcken. Ich kann`s verstehen.

Ansonsten die Zeit der Impfungen, Grippe, Streptokokken und Ende November der zweite Booster. Im Mai zunächst die Infektion. Zwei Wochen heftige Erkältung. Wusste nicht, wieviel Rotz in so einem Kopf stecken kann. Hat keinen Spaß gemacht, nicht empfehlenswert.

Ein herausragendes Buch ist mir in diesem Jahr nicht unter gekommen, was aber auch darin begründet ist, dass ich nicht allzu viel gelesen habe. Als Urlaubslektüre diente Andreas Maier „Die Städte“. Hat mir schöne Stunden beschert, wie immer bei Maier. Am Ende vom Buch war noch Urlaub übrig. Das gab`s auch noch nicht. Und zur Zeit beschäftigt mich Robert Menasse mit „Die Erweiterung“. Auch das macht viel Freude.

Um noch ein wenig den Grauschleier dieser Zeit zu lüften, sei ein besonderer Besuch erwähnt. Auf dem Rückweg aus der Pfalz nach Berlin machte eine ganz alte Freundin bei mir Halt. Wir kennen uns seit über 40 Jahren, waren mal ein Paar. Eine Künstlerin, einige ihrer Bilder hängen in meiner Wohnung. Im letzten Jahr hatte sie mich schon einmal besucht. In diesen unsicheren Zeiten sind wir beide überaus froh, unsere Freundschaft wiederbelebt zu haben. Konstanz und Vertrauen über viele Jahre geben Halt und Sicherheit. Wir haben einen langen Spaziergang gemacht, waren kurz im Städel und dann in einem schönen Lokal in Sachenhausen essen. Auf dem Heimweg einen Absacker in der Mosaik-Jazzbar, die sie sehr begeistert hat.

Überhaupt Spaziergänge. Diese begleiten mich ja schon einige Jahre, seit ich mich gewandelt habe vom Radfahrer zum Fußgänger. Über diese Spaziergänge geschrieben habe ich schon gelegentlich, aber jetzt sind sie versammelt in den sog. „Spaziergangstagebüchern“, hier im Blog nachzulesen. Weitere werden folgen. Denn es gilt, wenn ich gehe, geht`s mir gut.

Es liegt auf der Hand, das Zweifel an der Zukunft angebracht sind. Der Klimawandel geht nach wie vor mehr oder weniger ungehindert seines Weges und seit Februar führt Putin einen grausamen Krieg gegen die Ukraine. Plötzlich Krieg in der Nachbarschaft, inklusive Atomwaffendrohungen, vor einem Jahr undenkbar. Auch ich konnte mir das nicht vorstellen, trotz all der Truppenbewegungen, trotz Krim. Niemand ist gefeit vor Naivität.

Noch gewichtigere Gründe liegen im Tod von vier Menschen aus meinem engeren Umfeld. Drei langjährige Bekannte, keine sehr engen Freunde aber Menschen, die mir immer wieder begegnet sind, und eine ehemalige, wunderbare Suhrkamp-Kollegin. Die beiden ältesten darunter kaum älter als ich.

Also, mach dich fort, 2022.

R.I.F. Jörg (47), R.I.F. Werner (71), R.I.F. Michael (65), R.I.F. Ulrike (71).

Spaziergangstagebuch 11

Von Ernst-May-Platz zu den Schwanheimer Dünen.

Hochnebel tauchte die Stadt in ein herbstliches Grau. Es war mild. Kurze Zeit später klarte es auf. Perfektes Wetter für einen langen Spaziergang. Ich ging gewohnte Wege und freute mich an dem grünen und großzügigen Innenhof, durch den ich gerne gehe. Heute würde so wahrscheinlich nicht mehr gebaut. In meinem Quartier sind derartige Höfe jedoch noch häufig zu finden. Auch der Block in dem ich wohne gruppiert sich um einen großzügigen baumbestanden Hof, der allerlei Getier Heimat bietet. Am Uhrtürmchen trinke ich einen Cappuccino, er ist bitter. Wieso ist es so schwer, einen guten Kaffee zu bereiten? Baselitz hat gestrichen. Beim Lieblingswasserhäuschen Fein nehme ich noch einen Cappuccino, dazu ein Stück Birnen-Schokokuchen. Kraft tanken für den langen Spaziergang. Der Kaffee war gut, geht doch.

Die Sonne kommt heraus, ein herrlicher Tag, Goldener Oktober. Gestärkt setze ich meinen Weg Richtung Main fort. Auf dem Liebfrauenberg stehen Buden, Bratwurst und Schoppen. Einige Menschen bevölkern die Biergarnituren. Frankfurter scheinen das zu brauchen. Zeugen Jehovas werben am Paulsplatz für einen „kostenlosen Bibelkurs“. Passanten schlendern achtlos vorbei. Vor der scheinbar historischen Postkartenkulisse des Römerbergs recken etliche Sonnenanbeter bei Apfelwein und Rindswurst das sonnenbebrillte Gesicht himmelwärts. Eisener Steg, Mainufer. Es ist wenig Betrieb. Ich gehe westwärts und ärgere mich die Sonnenbrille vergessen zu haben. Überraschungen erwarte ich keine, zu oft bin ich schon diese Strecke mit dem Fahrrad gefahren.

Mein Ziel ist das Naturschutzgebiet Schwanheimer Düne ganz im Westen der Stadt. Oft bin ich mit dem Fahrrad an diesem Naturschutzgebiet vorbei gefahren, durchgelaufen bin ich noch nie. Das sollte sich endlich ändern. Ich gehe weiter, habe Zeit. Die wohltuende Wirkung des Gehens setzt ein. Es geht mir gut, wie immer beim Gehen. Auf der andern Mainseite, – hippdebach wie es in Frankfurt heißt. Ich gehe am Ufer auf der sachsenhäuser Seite, drippdebach – wächst das Hochhausensemble Four in den Himmel. In nicht allzu ferner Zukunft wird es die Skyline prägen.

Drei Männer, dicht gedrängt auf einem Elektroroller, fahren vorbei. Ich wünsche ihnen nichts Gutes. Kurz darauf sechs Fahrradrikschas, die mich gnädig stimmen.

Segelboote tanzen auf dem Main. Kurz zuvor bin ich eine Treppe zum Ufer hinab gestiegen, froh der Uferstraße entronnen zu sein. Ich setzte mich auf eine Bank in der Sonne, trinke Wasser und esse einen Apfel. Am anderen Ufer wird gehämmert, gebohrt und geschliffen. Kräne bewachen die Baustelle. Die Umgebung kommt mir vollkommen unbekannt vor, was mich wundert. Die Treppe jedoch, die ich kurz vorher hinabgestiegen war, habe ich mit dem Rad immer ignoriert. Wer zu Fuß unterwegs ist sieht mehr. Das hat sich jetzt wieder erwiesen. Ich bin im „Licht- und Luftbad Niederrad“, kurz „LiLu“, gelandet von dem ich schon gehört hatte es aber noch nicht gesehen. Ich dachte, auf dem Rad hätte ich es am Wegesrand bemerken müssen. Hatte ich aber nicht, jetzt war klar weshalb. Es gab also doch Überraschungen. Das Lilu ist ein einladender Ort. Eine große Wiese unter Bäumen. Vor einem geräumigen Pavillon, dem Ponton, eine hölzerne Terrasse. Darauf Stühle und Tische. Hat aber nur im Sommer geöffnet. Das alles direkt am Mainufer. Kunst aus Holzbohlen bereichert das Gelände.

Ich bin dankbar, den Ort gefunden zu haben. Es lohnt immer zu Fuß zu gehen. Ich nehme mir vor im nächsten Sommer dort gelegentlich Zeit zu verbringen. Erfreut gehe ich weiter, und finde mich in einer Sackgasse. Das LiLu liegt auf einer Halbinsel, die an einer runden Terrasse endet. Ich stütze mich auf das Geländer und schaue mainabwärts. Beim Gehen gibt es keine Umwege denke ich und kehre um.

Nach kurzem eine Treppe und eine kleine Brücke zur Straße hin. Und plötzlich fühle ich mich als hätte ich einen Schatz entdeckt. Links der Treppe liegt versteckt ein über und über bewachsenes Boot, eine Arche Noah für Pflanzen, das „Naturship, MS Heimliche Liebe“. Ohne meinen kleinen Umweg hätte ich das nie entdeckt. Schon jetzt hat sich mein Ausflug gelohnt.

Längs der Straße geht es weiter. Am Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt wienert ein Mann im grauen Pullover seinen SUV. Ein älterer Rollerfahrer schiebt sich mühsam den Weg entlang, am Lenker eine braune Papiertüte. Gänse schnattern im Tiefflug über das Wasser. Der Rest des Weges zieht sich, bleibt aber ereignislos. Wege, die ich kenne, die Griesheimer Schleuse. Der Herbst zaubert rote Girlanden ins Laub.

Dann Schwanheim. Ich weiß zwar wo etwa die Dünen sind, aber nicht wie ich da zu Fuß hinkomme und frage das Navi. Prompt nehme ich den falschen, längeren Weg. Aber egal. Bald stehe ich auf dem Bohlenweg, der durch die Düne führt. 1984 wurde sie zum Naturschutzgebiet erklärt. Entstanden ist die Düne vor 10000 Jahren als Folge der Eiszeit. Bis in die achtziger Jahre wurde dort Sand abgebaut. Die Gruben füllten sich anschließend mit Grundwasser und bieten seit dem Amphibien wertvollen Lebensraum. Auf dem kargen Sandboden der Düne gedeihen seltene Pflanzen. Ich lerne, Silbergras, Bauernsenf und Sand-Grasnelke, wohlklingende Wörter. Daneben bizarre Kiefern. Seltene und geschützte Tiere bevölkern die Düne, Eidechsen etwa.*

Ich gehe weiter, staune, schaue und fotografiere. Eine Meereslandschaft am Rande der Großstadt. Bald habe ich die Düne gequert, mein Ausflug nähert sich dem Ende. Zwei Orte habe ich kennen gelernt, an denen ich sicherlich nicht zum letzten Mal war, das LiLu und die Schwanheimer Düne.

Zum Abschluss steuere ich das Apfelweinlokal Mainlust in Schwanheim an. Ich brauche Stärkung, habe 20 km in den Beinen. Auf einer Brücke über die Schnellstraße, rasten ein Mann mit einem Kind und einem Säugling. Der Junge legt sich in die Sonne, als würde er den Lärm und den Gestank, der von der Straße ausgeht, genießen. Ich Schwanheim war kürzlich Kerb. Zeugen davon hängen noch am Kerbebaum. Nach 20 Minuten komme ich an der Gaststätte an. Viele Gäste sind noch nicht da. Ich setzte mich in den Garten, trinke Bier und Apfelwein, gegen den Hunger Schnitzel mit Brot. Die Tram der Linie 12 bringt mich schließlich nach Bornheim, es dauert fast eine Stunde. Ein schöner Ausflug hat sein Ende gefunden.

*Sämtliche Informationen zur Schwanheimer Düne hat mir das Internet verraten.

Ein besonderer Ort – Die Mosaik Jazz- und Chansonbar

Zwischen Saalburg- und Wittelsbacher Allee im Frankfurter Stadtteil Bornheim liegt das Quartier um Freiligrath-, Mainkur- und Fechenheimer Straße. Eine etwas abgelegene Gegend in die sich hauptsächlich Menschen verirren, die auch dort wohnen. Weiter als bis zur Ecke Mainkur- und Ringelstraße kommt kaum jemand. Dort ist Endstation für alle die aus Richtung der lebhaften Berger Straße kommen, die Hungrigen, Durstigen, Feierwütigen und Einsamen der Nacht. Hier liegen die Nacht-, Trinker- und Raucherkneipe Lebensfreude Pur , die Szenegaststätte und der selbsternannte Satiredorfkrug Henscheid, gegenüber die Fußball und Musikkneipe Bernemer Fass sowie das Café Klatsch, das allerdings um 22 Uhr seine Pforten schließt und daher eher als Tagescafé beliebt ist. Die Anwohner dieses Viertels wähnen sich wahrscheinlich in einer reinen Wohngegend, ohne Geschäfte und Geschäftigkeit. Dass sie aber statt dessen auf einem Parkplatz wohnen, werden sich wohl die wenigsten eingestehen. Dicht an dicht ragen querstehende Autos weit in die Gehwege hinein und verstopfen die Freiligrathstraße mit ihrem Kopfsteinpflaster. Ein Überqueren ist schwierig, besonders mit einem Rollator, Rollstuhl oder Kinderwagen. Auch die Kreuzungen sind regelmäßig zugeparkt. Natürlich gibt es auch nirgendwo die Möglichkeit, ein Fahrrad anzuschließen. Bäume oder anderes Grün sind dort nicht zu finden. Nur an der Ecke zur Mainkurstraße führt ein schmächtiges Bäumchen inmitten einer kleinen Wiese ein trauriges Dasein. Direkt gegenüber liegt das Fahrradgeschäft Fahrradkeller, das ausschließlich Vintageräder feilbietet, Schönheiten, die überall an den Wänden und der Decke des kleinen Ladens hängen, restauriert und poliert. Eine Augenweide angesichts des allgegenwärtigen Blechs. Öffnungszeiten Samstags von 12 – 15 Uhr, oder per Anmeldung unter der angegebenen Mailadresse. Von der Saalburgallee kommend fällt rechterhand ein Secondhandladen dadurch auf, dass er bereits seit Jahren geschlossen ist. Durchgebogene Regalbretter im Fenster, verstaubte Klamotten, eine Tafel die darauf hinweist dass „heute geschlossen“ sei. Ein symptomatischer Eintritt in eine tote Straße, ein toter Laden. Auf den Balkonen der schönen, sanierten Gründerzeithäuser ist nur selten jemand zu sehen, es sei denn zum Rauchen. Aber auch diese Straßen haben Geschichten zu erzählen. In der Freiligrathstraße lebte in der ersten Hälfte der siebziger Jahre der Frankfurter Jazz- und Avantgardemusiker Alfred Harth in einer WG. Und in der Fechenheimer ist im Jahre 1927 der Gangsterboss und Bestsellerautor Henry Jaeger („Die Festung“) geboren.

Weshalb also sollte jemand ausgerechnet an der Mündung der Fechenheimer- in die Freiligrathstraße eine Kneipe eröffnen? Wer sollte dort hingehen, außer die Anwohner? Aber genau an dieser Ecke findet schon seit vielen Jahrzehnten Kneipenleben statt, unter wechselnden Besitzern und Namen. Seit dem Jahre 2000 ist dort die Jazz- und Chansonbar Mosaik beheimatet, ein wunderbarer Lichtblick in dieser Ödnis. Ursprünglich hatte das Ehepaar nur geplant, eine Wohnung in dem Eckhaus zu besichtigen, die sie kaufen wollten. Der Verkäufer erzählte bei der Gelegenheit, das die Gastronomie auch zu verkaufen sei. Der Entschluss wurde gefasst und aus dem Architekten wurde der Barmann.

Schon von Weitem fällt das Mosaik auf, mit seinem mächtigen Rosenstrauch und dem wilden Wein, die das kleine und sehr heimelige Gärtchen der Bar überspannen. Was Rosen und Wein nicht schaffen übernimmt der Kirschbaum an der anderen Ecke dieser unerwarteten Idylle. Beides hat der Wirt vor über zwanzig Jahren angepflanzt. Lindgrüne Schirme spannen sich über das kleine Areal mit seinem Schotterboden, in dem fünf Tische für die Gäste bereit stehen. Selbst in warmen Sommernächten ist hier meist ein Platz zu finden. Nachts erleuchten die hellen Transparente der Bar und die Lichterkette einladend die triste Kreuzung.

Im Inneren der Bar fällt als erstes der lange Tresen in dunklem Holz auf, der den ganzen vorderen, schmalen Raum dominiert. An der Wand ein großes, indirekt beleuchtetes, teilweise offenes und verspiegeltes Thekenregal, das all die typischen Zutaten für eine Bar präsentiert. Alle Arten von Schnäpsen, Likören, Bränden, Pastis`, Sirups und Säften, die Zutaten für die Cocktails, die auf der umfangreichen Karte zu sehr zivilen Preisen angeboten werden. Auch eine gute Auswahl an Weinen ist zu finden, ebenfalls zu überaus fairen Preisen. Entworfen hat diese Einrichtung der Wirt. Der in Ehren ergraute, liebenswerte Mann mit den warmen Blick und der sanften Stimme, ist als junger Mann von Tunesien aus, wo er geboren wurde, nach Paris gegangen, um an der École des Beaux Arts Architektur zu studieren. Dieses Studium finanzierte er durch einen Job im Maxim. Dort lernte er kunstvoll mit den Inkredenzien zu hantieren und aus ihnen feinste Cocktails zu zaubern. Die Drinks servierte er den Schönen und Reichen, die im Maxim verkehrten, und ihn dafür mit üppigen Trinkgeldern bedachten. Taoufik, so heißt der Wirt, beherrscht diese Kunst noch immer und seine Cocktails werden allseits gelobt und geschätzt. Die Gäste müssen aber Zeit mitbringen. Taoufik lässt sich nicht aus der Ruhe bringen oder gar hetzen, für die Bestellungen nimmt er sich die Zeit, die er braucht. Jeder hat dafür Verständnis. Es werden im Mosaik nicht nur die üblichen Drinks und Cocktails serviert, sondern auch diverse Speisen. Bei Bedarf bietet der Wirt auch noch mitten in der Nacht den Hungrigen eine Portion Schafskäse mit Oliven oder auch nur ein Paar Frankfurter. Jazzer sind Nachtmenschen. All das erledigt er alleine, Abend für Abend. Gelegentlich unterstützt ihn seine Frau. Die Bar schließt, wenn die letzten Gäste gegangen sind und das kann auch mal fünf Uhr morgens sein, oder sogar noch später. Einen Ruhetag gibt es nicht, aber gelegentlich bleibt die Bar für einen, zwei oder auch drei Tage geschlossen. Das versteht jeder. Für die Musik sorgen Internet-Videos diverser Jazzkonzerte oder eigens angelegte Playlisten, die auf der Festplatte schlummern und von der guten Anlage in die Bar geschallt werden. In den ersten fünf Jahren stammte die Musik im Mosaik von Schallplatten. Diese lagern mittlerweile in Umzugskartons im Keller, Jazz, Blues und Latin, etwa 6000 Stück, darunter sicherlich etliche Schätze.

Taoufik steckt voller Geschichten, die er auch gelegentlich erzählt. Von den Musikern etwa, denen er im Laufe seines Lebens begegnet ist. Da ist die Rede von Sonny Stitt, mit dem er Cognac getrunken hat, von dem Bluesmusiker Champion Jack Dupree, der zwei Wochen bei ihm wohnte, von dem Trompeter Dizzy Gillespie, der ihn einst zum Geburtstag eingeladen hatte, der irgendwo in New Jersey begangen wurde. Taoufik flog hin. Dann gibt es noch die Geschichte von dem Sitarvirtuosen Ravi Shankar. Einen Konzertaufenthalt in Frankfurt nutzte dieser für einen Besuch im Mosaik. Als er die Bar betrat, zeigte der Monitor einen Konzertmitschnitt von Norah Jones. That´s my daughter, sagte der bis dahin für Taoufik unbekannte Mann, und deutete auf den Monitor.

Das Erweckungserlebnis, das ihn zum Jazzfan machte, hatte er als 14 oder 15-jähriger Junge in Tunesien. Am Strand vor historischer Kulisse erlebte er ein Konzert von Louis Armstrong, ein großes Ereignis für den jungen Mann. Das Ticket war unerschwinglich, also bearbeitete er so lange seinen Vater, bis dieser den Eintritt spendierte. Seit diesem denkwürdigen Konzert am Strand von Tunesien ist Taoufik Jazzfan.

Die Juliette-Greco-Lampe

Über vier Stufen gelangen die Gäste in den hinteren Raum. Hier stehen einige Tische und ein Klavier. Auffallend sind die unterschiedlichen aber stilgleichen Lampen, die in Ecken und auf Fensterbrettern stehen. Eisenrahmen halten eine rotbraune Bespannung, die für warmes Licht sorgt. Ich hielt die Lampen für tunesische Volkskunst, hatte mich aber natürlich getäuscht. Auch sie stammen vom Wirt. Er entwarf sie während seines Studiums an der École des Beaux Art und ließ sie bauen. Die größte und schönste der Leuchten steht im hinteren Raum neben dem Klavier. Sie ist schlank und weitet sich nach oben hin, ähnlich einer Blüte. Diese Stehlampe sei von Juliette Greco inspiriert, erzählt Taoufik, und von den Kleidern, die sie gerne trug. Es wundert nicht, er kannte auch diese große Künstlerin.

Die Mosaik Bar ist ein Ort für Live Musik, nicht nur Jazz, gelegentlich auch Pop und Rock. Oft in wöchentlichem Rythmus stehen Musikerinnen und Musiker auf der Bühne. Darunter durchaus bekannte Namen, oft aus den Reihen der renommierten HR Bigband. Anfangs gab es massive Beschwerden der Nachbarschaft. Nachdem die Mosaik Jazzbar für einen hohen Betrag schallisoliert wurde sind die Beschwerden verstummt.

An den Wänden s/w Fotos diverser Jazzmusiker, einige signiert, Originale. Auch das ikonische Photo mit Jacques Brel, Leo Ferré und George Brassens schmückt gerahmt die Bar und verdeutlicht, worum es im Mosaik auch geht.

Nicht nur Livemusik wird im Mosaik geboten. Frei empfangbare Spiele der Frankfurter Eintracht überträgt Taoufik auf einer großen Leinwand, etwa Europapokalsspiele. Er ist Fan des Clubs.

Viele der Stammgäste, die fast täglich am Tresen sitzen, sind im Laufe der Zeit Freunde von Taoufik geworden. Anwälte, Lehrer, Rentner, Junge und Alte und natürlich Musikerinnen und Musiker. Oft nehmen auch Beschäftigte aus den umliegenden Kneipen dort ihren Feierabenddrink. Das Publikum ist gemischt. Die Mosaik Jazz und Chanson Bar ist ihr Wohnzimmer. Und das werden alle vermissen, sollte es diesen wunderbaren Ort eines Tages nicht mehr geben, wenn die Lichter ausgehen, Bornheim ärmer wird und die Freiligrathstraße im Parkplatzgrau versinkt.

Die Mosaik Jazzbar im Internet:

https://www.mosaik-jazzbar.de/startseite.php

oder hier: https://www.facebook.com/MosaikFrankfurt/

Anm.: Dieser Text ist vom Wirt autorisiert.

Spaziergangstagebuch 10

Ein Rundgang vom Ernst-May-Platz über den Röderbergweg zum Main. Auf der Sachsenhäuser Seite bis Alte Brücke. Weiter über Römerberg zum Markt an der Konstablerwache und zurück nach Bornheim.

13.08.2022

Ein heißer Tag, Sonne, Wolken. Unterm Dach wird’s ungemütlich, daher Schuhe schnüren, Hut auf, herumgehen, Kopf lüften. Es ist Samstag, Markttag an der Konstablerwache. Ich wähle einen Lieblingsspaziergang, der sehr abwechslungsreich ist. Aber auch länger. Doch das spielt keine Rolle. Beim Gehen gibt’s keine Umwege.

An der Wittelsbacher Allee zwei geschmückte Wagen, die sich im Laufe des Nachmittags zusammen mit anderen zum Umzug der Bernemer Kerb formieren werden. Es ist Eröffnungstag der Kerb, die nach zwei Jahren der Unterbrechung wieder gefeiert werden soll. Ein Mann brüllt in sein Telefon, ein anderer schiebt ein rotes Motorrad. Am Röderbergweg, dieser schönen Straße am Hang oberhalb des Ostparks, sind kaum Menschen unterwegs. Das bleibt so bis zum Main. Platanen treiben aus. Erstmals fällt mir in der Nähe des Zoos die St. Nicolai Kirche auf. Wikipedia verrät, dass sie im Stil der Neoromantik Anfang des letzten Jahrhunderts gebaut wurde. Der Turm steht unter Denkmalschutz. Sie gefällt mir. Die Baugrube neben der Kirche liegt brach. An der Gedenkstätte zur Deportation der Frankfurter Juden (siehe auch Spaziergangstagebuch 3) an der EZB bleibe ich immer wieder stehen und lese die bewegenden Sätze im Boden. Die Vergangenheit holt mich ein. Was für ein unendliches Leid an diesem Ort geschah und heute gehe ich dort entspannt spazieren. Wir können uns nicht sicher sein, dass das auch so bleibt. Vertrocknetes Gras säumt den Weg.

Ich überwinde meine Höhenangst und gehe auf der Deutschherrnbrücke über den Main nach Sachsenhausen. Unter der Eisenbahnbrücke eine kleine Party. Technoklänge schallen über das Gelände, bis sie vom Rattern einer Regionalbahn übertönt werden. Ein Ausflugsschiff, Menschen auf „Wasserfahrrädern“, der Pegel des Mains sieht noch nicht besorgniserregend aus. Am Deutschherrnufer findet ein Japanisches Kulturfest statt. Das will ich mir ansehen. Weiße Plastikplanen begrenzen das Gelände, ein Zeltgebirge ragt über die Barriere hinaus. Es wird anscheinend Eintritt verlangt, eine lange Schlange am Einlass. Eine hermetische Veranstaltung. Ich gehe weiter. Auf der Frankfurter Seite, am Ende der Ignaz-Bubis-Brücke, das Literaturhaus im Kontrast zum Schwesternheim des Hospitals zum heiligen Geist. Bis zum Ende des Wiederaufbaus der ehemaligen Frankfurter Stadtbibliothek und dem Einzug des Literaturhauses 2005 ist das Schwesternheim nicht weiter aufgefallen. Jetzt könnte der Kontrast kaum größer sein. Als mir erstmals das brutalistische Hochhaus auffiel war mein erster spontaner Gedanke: Abreissen! Mittlerweile hat sich mein Blick verändert und ich denke beim Anblick dieses Gebäudes über Hässlichkeit und ihre Funktion für die Stadt nach. Gedanken, die vertieft werden müssen, aber ich bin sicher, dass Hässlichkeit in Städten eine wichtige Funktion hat. Wollen wir in Städten leben, die so aussehen wie die „Neue Frankfurter Altstadt“? Ich sicher nicht.

Mit diesen Gedanken gehe ich weiter und wechsle über die Alte Brücke. Hier fällt linkerhand ein sehr schönes, schmales Gebäude mit spitzem Dach auf, der Portikus. Die Fassade dieser Außenstelle des Frankfurter Städel Museums ist in traditionellem rotbraunem Sandstein gehalten. Ein typischer, stadtbildprägender Baustoff in Frankfurt. In diesem Haus wird jungen Künstlerinnen und Künstlern die Gelegenheit gegeben, ihre Arbeiten zu präsentieren. Der Eintritt ist frei. Auch ein Tipp für alle, die am Main unterwegs sind und ein Bedürfnis verspüren. Dort gibt es eine Toilette und die ist sauber. Ein älterer Mann mit freiem Oberkörper, Dutt und Skateboard auf dem Gepäckträger seines Damenrads, radelt vorbei. Aus einer Box am Rad dröhnt Musik, itˋs a wonderful world. Am anderen Ende der Brücke grüßt auf der rechten Seite überlebensgroß Karl der Große. Er tut dies mit Schwert. Das ist bemerkenswert, denn oft wird das Schwert geklaut, was ihm den Spitznamen Karl ohne Schwert einbrachte. Der Schaden hielt sich dabei in Grenzen, der Karl auf der Brücke ist eine Kopie. Das Original steht im Historischen Museum.

Das Caricatura Museum bewacht den Dom. Zwei Einkaufswagen, gefüllt mit allerlei Spielgerätschaften für den freien Gebrauch, mitten auf dem für Autos gesperrten Mainkai, fallen auf. Niemand spielt zu dieser Stunde. Etwas weiter vollführten einige Skater ihre Kunststücke und weisen auf ihr Anliegen hin. Den Eingang zur Stadt markiert das Historische Museum, ein Hingucker, eine Wohltat für die Augen, dieses Gebäude. Ein Besuch lohnt immer. Auf dem Römerberg eine Kundgebung von Falun Gong. Die Neuen Altstadt bevölkert von Touristen. „Das ist aber schön geworden.“. Schnell weg. Ich quere die Braubachstraße, die in den letzten Jahren an Aufenthaltsqualität enorm gewonnen hat, seit dort Parkplätze zugunsten von Gastronomie, Bänken und Fahrradständern wegfielen. Es fehlen allerdings einige Bäume. Den einzigen Schatten spenden die Schirme der anliegenden Gastrobetriebe.

Beim Gang durch die Kleinmarkthalle mit ihrem verlockenden Angebot und den provinziellen Öffnungszeiten (Werktags bis 18 Uhr, Samstags bis 16 Uhr) hole ich mir etwas Kühlung. Die Weinstube des Rollanderhof im ersten Stock ist gut gefüllt, ebenso wie der Vorplatz, der Liebfrauenberg. Dicht an dicht stehen die Menschen, Sekt und Wein in der Hand. Oder auch einen chönen „Apfel-Champus“ für nur 5,- €. Am Regionalladen wird eins meiner Bücher feilgeboten. Ich habe nie einen Pfennig Honorar dafür gesehen. Weit bis zum Markt an der Konstablerwache ist es von hier aus nicht mehr. Zumindest Donnerstags und Samstags ist dies der schönste Ort Frankfurts. Zunächst jedoch führt der Weg über die Töngesgasse, vorbei an einem mächtigen, und häßlichen, Gebäude, dem Parkhaus an der Konstablerwache. Riesige Häuser in bester Innenstadtlage, für Autos, nicht für Menschen. Da stimmt was nicht. Auf dem Dach wird gefeiert. Und bei diesem Gebäude relativiere ich meinen Wunsch nach umgehenden Abriss nicht. Das ist destruktive Hässlichkeit. Dazu passt, dass der Gehweg vor dem Parkhaus vollgemüllt ist mit diesen elektrischen Krücken für Fußlahme.

Endlich der Markt. Ich stärke mich beim Bauer Stranz mit einem Handkäsbrot und einem frisch gepressten Apfelsaft. Den Salat dazu gabˋs gratis. Es folgt ein leckeres Odenwälder Bier. Dann der Heimweg nach Bornheim. Der Tag endete in netter Begleitung auf der Bernemer Kerb mit Rock ˋn Roll. Der Wermutstropfen war, dass meiner Begleitung, während sie ausgelassen auf Tisch und Bank tanzte, der Geldbeutel aus dem Rucksack geklaut wurde.*

* Der „geklaute“ Geldbeutel ist wohl wieder aufgetaucht.

Spaziergangstagebuch 9

Auf dem Hölderlinpfad von Bad Homburg nach Frankfurt.

16.06.2022

Schon seit einiger Zeit habe ich vor gehabt, diesen 22 km langen, ausgeschilderten Pfad auf den Spuren Hölderlins zu gehen. Und ich wollte ihn genau in dieser Richtung gehen, von den Hängen des Taunus nach Frankfurt, die Skyline im Blick. Es ist der erste geführte Spaziergang in diesen Tagebüchern. Das Wetter war perfekt, das Neuneuroticket ermöglichte eine preiswerte Anreise. Die geschenkte Thermostasche einer Freundin kam erstmals zum Einsatz. Sie ist gut für Picknick geeignet, Gläser und Teller (aus Kunststoff) ebenso vorhanden wie Bestecke und Servietten. Ich befüllte eine halbliter Wasserflasche mit Riesling, eine andere mit Wasser, kaufte ein Stück Fleischwurst, zwei Brötchen, packte Senf und einen Apfel dazu und los ging es. Zunächst verpasste ich die U-Bahn, musste daher eine halbe Stunde an der Konstablerwache auf die nächste S-Bahn warten. Es war Fronleichnam, dieser überflüssige Feiertag. Auf dem Plateau der Konstablerwache standen etliche Buden, Flohmarkt. Wie hässlich doch dieser Platz ist, wenn kein Markttag ist, dachte ich. Aber ich konnte mir mit diesem Flohmarkt etwas die Zeit vertreiben. Flohmärkte locken mich meist nicht.

Dann war ich endlich in Bad Homburg. Der Pfad beginnt am Bad Homburger Schloss in der Innenstadt. Darauf verzichtete ich, er führt auch unmittelbar am Bahnhof vorbei.

Schnell entdecke ich den ersten markanten, von Hans Traxler gezeichneten, Wegweiser. Zunächst wird der Spaziergänger durch ein Industriegebiet geleitet, hinter den Zweckbauten Kirch- und Schlossturm der Stadt zu sehen. Ab dem Ausfluglokal Kronenhof, es gibt hier ein gutes, selbst gebrautes Bier, geht es für die nächsten Kilometer über landwirtschaftliche Wege durch Felder und Wiesen. Rechts der Taunus, am Horizont die Frankfurter Skyline. Nirgendwo Schatten oder eine Bank, auf der es sich rasten ließe. Der Weg passiert einen Tierfriedhof. Noch nie hatte ich eine solche Ruhestätte für des Menschen beste Freunde gesehen. Er war liebevoll gepflegt.

Es war heiß, die am Vortag gekaufte Sonnenschutzcreme hatte ich vergessen, nicht jedoch den kürzlich erworbenen Schlapphut. In Kombination mit einem weißen Leinenhemd war es jedoch sehr gut zu ertragen. Der Hut war meine beste Anschaffung der letzten hundert Jahre. Ohne ihn wär´s mir nicht gut ergangen. Hölderlin trug auf seinen monatlichen Gängen nach Frankfurt sicherlich auch einen Hut. Es heißt, er hätte die Strecke in drei Stunden zurückgelegt und sei am selben Tag wieder zurück gegangen. Diese Strapazen nahm er nur in Kauf, um seine Geliebte Susette Gontard zu sehen und gegenseitig die Briefe des letzten Monats auszutauschen. Hölderlin war Ende des 18. Jahrhunderts bei der Kaufmannsfamilie Gontard als Hauslehrer beschäftigt. Als sich zwischen der Dame des Hauses, Susette (Suzette), und ihm eine Liason anbahnte, blieb das dem Hausherren nicht verborgen. Er feuerte Hölderlin umgehend. Dieser fand Aufnahme bei einem Studienfreund in Bad Homburg. Susette (Suzette) Gontard ging als Diotima in die Literaturgeschichte ein. Sicher ist, dass Hölderlin nicht den gleichen Weg nutzte, den ich jetzt ging. Damals sah die Landschaft noch völlig anders aus. Es gab keine Auto- und Eisenbahn, keine asphaltierten Wege, keinen Stadtteil Riedberg und keine Frankfurter Skyline. Der Hölderlinpfad versucht daher, den Wegen des Dichters annähernd zu folgen.

Ich hoffte auf eine Sitzgelegenheit, am besten mit einem Tisch. Aber es sollte dauern. Erst im neuen Stadteil Riedberg, von dem ich bislang viel Schreckliches gehört habe. Dort war ich hingegen noch nie. Ich fand, von Norden kommend ein einladendes Viertel, ganz offensichtssichtlich für junge, und wohlhabende, Familien mit Kindern geplant. Die Vielzahl von Spielplätzen deutete darauf hin. Außerdem viel Grün, große Insektenwiesen und ein kleiner Park mit einem Weiher, Kätcheslachpark, so der merkwürdige Namen der Grünanlage. An einem der Spielplätze fand ich eine Bank, leider nicht im Schatten und ohne Tisch. Aber egal, ich wollte etwas rasten, essen und trinken. Dort machte ich mein Picknick, aß Wurst, trank Wasser und Wein. Das tat gut. Nach einer Dreiviertelstunde gings weiter.

Zunächst verlor ich den Pfad, hatte einen Wegweiser übersehen. Das gehört dazu, Verlaufen ist ein Charakteristikum von Spaziergängen. Wer nicht geht, kann sich auch nicht verlaufen. So lernt man die Welt kennen, quasi allein auf sich gestellt. Ich fand den kleinen Umweg durch diesen Teil von Riedberg durchaus interessant und freute mich an dem schönen ruhigen Weg durch hohe Insektenwiesen. Dann kehrte ich um und begab mich wieder in die wohlbehütete Obhut von Herrn Hölderlin, bzw dem nach ihm benannten Pfad. Grün ging es weiter bis zum alten Flugplatz Bonames. Dieser, seit 30 Jahren stillgelegte Flugplatz ist Teil des Frankfurter Grüngürtels, der sich rund um die Stadt zieht. Er wurde einst von der amerikanischen Armee genutzt, bis er 1992 stillgelegt wurde. Bis vor einigen Jahren gab es dort ein schönes Restaurant, in dem sozial benachteiligte Jugendliche beschäftigt wurden und eine Ausbildung machen konnten. Jetzt ist dort nur noch ein Kiosk zu finden, mit dem entsprechenden Angebot. Getränke aus Flaschen, Eis, Bratwurst und den schlechtesten und teuersten Apfelwein Frankfurts. Ein dünnes Gesöff, mit Wasser gespritzt, kostet drei Euro. Es versteht sich, dass er nicht geschmeckt hat. Aber ich konnte an einem Tisch sitzen und ein Klo gabs auch.

Nach kurzem Stopp setzte ich meinen Weg fort. Zunächst sehr schön am Uferweg der Nidda bis es dann nach rechts ging in Richtung Innenstadt. Den schönsten Teil des Pfades hatte ich hinter mir. Jetzt folgte städtische Ödnis, und gelegentlich verlor ich den Weg. Die Wegweiser waren mal auf der einen Seite der Straße angebracht und dann wieder auf der anderen. Ich folgte also der Homburger Landstraße und landete irgendwann auf der Eschenheimer Landstraße. Ab hier kümmerte ich mich nicht mehr um irgendwelche Hinweise, sondern ging geradeaus bis zum Hauptfriedhof. War nicht mehr weit bis Bornheim. Der eigentliche Hölderlinpfad endet am Goethehaus, wieso auch immer. Ohne Goethe geht’s nicht in Frankfurt. Den Hauptfriedhof hatte ich schon oft gequert, freilich ohne ihn gut zu kennen. Stattete Siegfried Unseld einen Besuch ab und entdeckte das neu aufgeschüttete Grab von Emil Mangelsdorff, dem kürzlich verstorbenen Jazzmusiker. Anschließend zum Hauptfriedhof geht’s durch die Grüne Lunge, dieser grünen Oase am Rande des Günthersburgparks. Die einst geplante Bebauung dieses Areals liegt nach dem Wahlsieg der Grünen bei der letzten Kommunalwahl glücklicherweise auf Eis. Durch den Günthersburgpark mit seinen vertrockneten, braunen Wiesen gehe ich weiter nach Bornheim. In der Gaststätte Weida schmeckt das kalte Bier besser als sonst.

Irgendwie. Tatsächlich. Genau.

1. W.C. Fields auf dem Markt

Regen und Wind, Frühjahr oder Herbst. „Regen – Eine Liebeserklärung an das Wetter wie es ist“ von Christian Sauer die passende Lektüre. Der Frühling zeigt sich kurz sich am Nachmittag, Sonne dringt durch Wolkenlöcher. Zeit zu gehen. Der Markt, Brot und Käse. Guten Riesling beim Pfälzer Biowinzer, wie immer. Am Nebentisch W.C. Fields, raucht Zigarre und trinkt Wein. „I don`t drink water. Fish fuck in it.“ Etliche Eintrachtfans versammeln sich beim Obstbauer und Kelterer aus dem Spessart. Es wird Apfelwein getrunken und auch schon gesungen. Zwei junge Männer in Barçafarben sind ebenfalls zu sehen. Die Stadt ist aufgeregt vor dem großen Spiel am Abend. Stoße das Glas mit dem Lagenriesling um und kaufe einen neuen. Daraufhin Small Talk mit den Tischnachbarn. Der hat ja eine ganz andere Farbe. Nächstes Mal will der Unbekannte den Mandelberg probieren. Gewohnte Wege zurück. Vor einigen Tagen hat irgendwo ein 26-jähriger Mann mit einem spitzen Gegenstand den Lack von über 200 Luxusautos zerkratzt. Motiv nicht, wie zu vermuten und auch nachvollziehbar wäre, Hass auf Autos. Nein, es war purer Neid. Der Mann war obdachlos und wollte nichts sehnlicher als so ein Auto. Sachschaden 500000 €. Er hat sich gestellt. Die Impfpflicht hat im Parlament keine Mehrheit gefunden. Am Abend vor der großen Leinwand am Tresen der Lieblingsbar. Die Eintracht spielt 1:1 gegen Barcelona. Zuhause zwei Gläser Katalanischen Wein.

2. Der Rand ist ein guter Ort.

Landregen, Schnee, Graupel, Hagel. April. Der Kran in der Nachbarschaft zerteilt den Himmel. Das Fahrrad seit Tagen im Regen, aus Faulheit. Spanischkurs, Kapitel 10. Hablar. Lektüre, Einzlkind, „Minsky“, Edition Tiamat. An der Supermarktkasse sucht eine alte Frau sorgsam ihr Kleingeld zusammen. Vor dem Bezahlen im Haushaltswarengeschäft gefragt werden, ob ein Bon benötigt wird. Wenn nicht, dann nicht. Auf dem Markt Brot und Äpfel. Es ist voll. Den üblichen Lagenriesling beim Ökowinzer. Platz ganz außen an der Theke. Der Rand ist ein guter Ort. Demowochenende. Am einen Tag „Querdenker“ mit Deutschlandfahnen, am anderen Russlandfans ohne Autos auf der einen Seite, auf der anderen Ukrainer und Unterstützer. Von der Leyen in der Ukraine, Johnson auch. In Berlin müssen Geflohene aus Afghanistan und Syrien ihre Unterkünfte zugunsten von Menschen aus der Ukraine verlassen. Andrang in der Buchhandlung. Osterbier. Beim Italiener Cannelloni in Gorgonzolasoße. Rotwein dazu, Espresso und Brandy danach. Die Kellnerin ist kaputt. Ihr Kollege, der Oberkellner, ist seit Wochen krank und fehlt auch noch auf unabsehbare Zeit.

3. Besoffene Kneipengespräche

Zwei Tage Frühling. Saharastaub sorgt für diesiges Licht. Die beste Freundin ruft aus dem Urlaub an, sie vermisst einen Schlüssel. Sachsenhausen an einem Sonntag fast ausgestorben. Die Gegend der Kindheit. Um 18 Uhr öffnete das Lokal. Sehr angenehm, ruhig, gute Preise, gute Küche. Ein billiger Kommödiant fliegt aus der Bahn wegen fehlender Maske. Ukrainische Sinti und Roma fliegen aus der Bahn wegen falsch getragenen Masken. Macron hat im ersten Wahlgang 5% Vorsprung auf Le Pen. Der Österreichische Kanzler Nehammer auf vergeblicher Mission bei Putin. Steinmeier ist in der Ukraine nicht willkommen. Scholz wurde eingeladen. Seit langem mal wieder die Lesebühne ihres Vertrauens. Führte zu einer weiteren roten Warnung in der App. Die wievielte? Negativ. Auch zuviel Wein in der Jazzbar. Besoffene Kneipengespräche über Putin und den Krieg anderntags und andernorts am Nebentisch. Die Fahrradtasche mit den Einkäufen (Eier, Milch und Marzipankartoffeln) über Nacht am Rad vergessen. Am nächsten Tag war alles noch da. Seit über einer Woche zwei Verkehrsschilder an der Straße vor der Tür, ab 04.04. Parkverbot von 7 – 17 Uhr. Passiert ist nichts. Kae Tempest über Kopfhörer, neues Album. Tägliche Spanischlektionen über Babbel. Es geht voran. Beim türkischen Imbiss gibt es eine gute Bratwurst. Erstmals in diesem Jahr im Gärtchen der Jazzbar. Ich Rotwein, sie weißen. Das wichtigste Schiff der russischen Schwarzmeerflotte, der Kreuzer „Moskwa“, wurde versenkt. FC Barcelona : Eintracht Frankfurt 2:3.

4. Der enttäuschte Pole.

Sonnige Ostertage. Trockener Streusselkuchen und bunte Eier. Auch Eierlikör. Im Westflügel ist es mindestens zehn Grad wärmer als im Ostflügel. Ein fliegendes Pferd über dem Markt. Das Weingut hat die Preise erhöht. Der Lyriker Thomas Rosenlöcher ist gestorben. Bayern-Trainer Nagelsmann erhält nach dem Ausscheiden aus der Champions-League über soziale Medien 450 Mordrohungen. Eintracht Frankfurt verliert 2:0 gegen Union Berlin. Ein Pole ist enttäuscht als er von einem Nichtraucher eine Zigarette kaufen will. Nach längerer Pause mit einer alten Freundin und Liebschaft telefoniert. Rote Coronawarnungen, negative Tests. Warnungen vor einer Killervariante im Herbst. Essen beim Italiener, Penne al arrabiata. Rotwein, Espresso und Brandy. Das Pesto hat geschimmelt. Russland startet eine Großoffensive in der Ukraine, die Türkei in Syrien gegen Kurden. Ansonsten Tee trinken und Spanisch lernen. Zwei stark tätowierte Frauen mit Botoxlippen prellen die Zeche.

5. E-Bike-Rentner in Kampfmontur.

Ein Eis am Hafen, Nuss und Vanille. Wie immer. Eis nur dort. Störche besiedeln den Hochspannungsmast. Ein schwer beladenes Containerschiff kämpft sich den Strom hinauf. Riesling, gut wie immer. Picknick mit Fleischwurst und buntem Ei. Senf vergessen, Salz nicht. Industrie am Ufer. Pluralis Majestatis bei der Frage nach einem freien Platz am fast leeren Tisch. E-Bike-Rentner in Kampfmontur. Ein Senfgeschenk. Symphonie for the devil am Rheinstrand. Ringo Starr schlendert über die Promenade, eine Rothaarige am Arm. Es folgt die „Manhattan“, flußabwärts. „SUV der Herzen“ auf einem Mietfahrrad. Padler und Ruderer erobern den Fluss. SHEIDE DOSE KARIES in Blau, Rot, Gelb auf dem Bahnhofsbackstein. Zuviel Sonne, zuviel Wein. Wenig Betrieb in der Jazzbar. Die Kreuzung davor wieder komplett zugeparkt.

6. Ein geplatzter Fahrradschlauch

Erst Frühling, dann Herbst. Und andersrum. Geschrei von den Höllenmaschinen der Dippemess. Es riecht nach frisch gemähtem Gras. Das Weinglas hat einen Riss, ohne jedoch zerbrochen zu sein. Tief dekoltierte junge Frauen kreuzen meinen Weg. An der Supermarktkasse steht ein alter Mann über sein Portemonnaie gebeugt und sucht das passende Kleingeld zusammen. Covid is coming home, to my home. Vietnamesische Hühnersuppe. Weinflaschen vor der Tür, volle, die Post auch. Immer wieder Versuche ein positiver Mensch zu sein. Klappt nicht immer. Abseits der belebten Straßen zum Testzentrum, positiv. Estoy enfermo. Die Geschmacksnerven springen im Dreieck. Entwirf deine Nivea Fotodose. Mit lautem Knall platzt ein Fahrradschlauch. Eintracht Frankfurt vs West Ham United 1:0. Finale.

7. Der erste Mauersegler

Eine Rangierlok fährt am Main Richtung Westen. Es riecht nach Diesel. Sonniges Wetter, dennoch viel Platz am Wasserhaus beim Oosten. Fünf junge Männer mit einer sowjetischen und einer russischen Fahne grölen am Main entlang und krakelen „Nazis raus“. Zwei Handvoll Querschläger am Römerberg. Ein ganz normaler Tag. Der erste Mauersegler dreht seine Runden. Mutter und Sohn streiten auf der Straße. Er geht zwei Meter voraus, der Hund trottet hinterher. Er schweigt. Ein langer, schlaksiger Mann entfernt sich zügig auf seinem altertümlichen Fahrrad. Sommerliche Temperaturen, er trägt eine Jacke und einen Rucksack. Auf dem Kopf eine wollene Schirmmütze mit Ohrenklappen, ähnlich Ignaz aus dem Roman „Ignaz oder Die Verschwörung der Idioten“ von John Kennedy Toole. Er erinnert an Jacques Tati. Ein Zahnarztstuhl neigt sich in die Horizontale.

8. Der Mann im Tarnanzug

Budenzauber in Mainz. Belohnungsausflug nach zwei Wochen Covid und einer anschließenden Antibiotikakur. Fluchtgedanken. Eulchen-Biergarten im Schlosshof weg, statt dessen Bübleschirme und leere Tische. Menschenmassen überall, Humbamusik auch überall. Oppenheim lockt. Die große Bleiche, der große Horror. Kurz vor dem Bahnhof nach links, Weinstube Lösch in der Altstadt ansteuern. Alles voll, überall Menschen, überall Humba. Weinstube Lösch, draußen alles voll, innen alles leer. Leer und ruhig und kühl, die Rettung. Eulchenbier, Gres Riesling, Wasser, Spundekäs. Alles gut. Waschmaschine Nr. 6 war belegt. Eine junge Frau saß davor und schaute ihr bei der Arbeit zu. Cappuccino und Käsetörtchen in der Zwischenzeit. Cappucchino viel zu bitter, Törtchen gut. Ein Mann liest seinem kleinen Sohn laut eine Geschichte vor. An Lesen nicht zu denken. Die Musik ist laut, Bässe im Vordergrund. Es wird mit der Mama telefoniert. Ein Mann im Tarnanzug steht vor dem Haus. Querschläger ziehen immer noch durch die Gegend mit Deutschlandfähnchen und DJ und Geschrei.

9. Sebastian Kurz und Michel Piccolli auf dem Weinfest

Der Stammtisch füllt sich. Durchschnittsalter etwa 75 Jahre. Einer schwärmt von Birnenkompott aus dem Supermarkt. Pensionärsstammtisch laut Selbstauskunft. Schmierige Altherrenwitze machen die Runde. Das Alter wird besser mit Wein, verspricht Anne, die Wirtin. Am Nebentisch bestellt jemand „Colaschoppe“, ,mit Kerner. Mauersegler über Fachwerk, schreiende Rentner am Wirtshaustisch. Das Café an der Straße, zwei Polizisten holen Kuchen. Später noch ein Dritter. Maschine Nr. 6 war frei. Nächtliche Kneipengespräche über Social Media, das man „von Anfang an“ abgelehnt hat, aber trotzdem genau weiß, was dort geschieht. Eine sehr elegant gekleidete Frau steht am Wasserhäuschen an. Sie telefoniert. Mitten auf der Straße liegt ein einzelner Addidas Schuh. Frau Geistert verkauft Wurstwaren vom Bauernhof. Man wünscht ihr einen Vornamen mit B. Eine Coverband martert Klassiker. Sebastian Kurz und Michel Piccolli auf dem Weinfest. Hitzeglocke über der Stadt. Die Kühlung beim Winzer ist machtlos. Stände werden drei Stunden vorher abgebaut. Das Karussel dreht sich für ein Kind.

10. Die schöne Radfahrerin

Sehr sommerlich. Die Pizza mit scharfer Salami schmeckte nach Hühnchen. Eine Frau aus einem Robert-Crump-Comic spazierte vorbei. Der beste Platz im Gartenlokal ist mit dem Rücken zu dem Monstrum zu sitzen, das ein Brunnen sein will, und nur das Wasser plätschern zu hören, so dass man meint, es handele sich tatsächlich um einen Brunnen. Ein kleines Mädchen spielt Geige, vor sich den geöffneten Geigenkasten. Die Mutter beobachtet alles hinter ihr von einer Bank aus. Füll dir deine Offenkartoffel nach deinem Geschmack. Tage des Vergessens. Ein Schlüssel, Wein, den Einkaufsbeutel im Café. Die hübsche blonde Radfahrerin, die mich auf eine geöffnetes Seitenfach meiner Umhängetasche hinwies, „es könnte etwas herausfallen“, stand kurze Zeit später in der Reihe vor dem Wasserhüschen, kurz vor mir. Sie kaufte ein Stück Kuchen und nahm es mit. Ciao. Kauend schob sie ihr Rad und entschwand. Rock ˋn Roll Rentner mit ACDC- und Anthrax-Aufnäher und seine betagte Begleitung trinken Apfelwein und knutschen gelegentlich. Die Kellnerin im italienischen Lokal hat ihre etwa 10-jährige Tochter sowie deren kleinen Bruder mit zur Arbeit gebracht. Sie gibt ihm einen Klaps auf den Hintern.

11. Ein Junge spielt Ukulele

Ein dreibeiniger Hund humpelt vorbei. Am Rhein ändert sich das Wetter, Wolken und Wind. Die Kühlung kommt nicht gegen die Hitze an, der Riesling ist zu warm. Bingen hat eine Rheinpromenade, die Fähre heißt Mary Roos. Rentnerhippies picknicken am Rheinufer. FC St. Pauli Antifaschist. Rüdesheim liegt nicht am Rhein sondern an der B 42. AC plus Schlagring auf der linken Wade, AB plus Schlagring auf der rechten. Rune im Nacken. Khan Kiosk Imbiss Sushi. Der Schlüssel ist wieder da. Ein kleiner Junge spielt Ukulele und singt unverständliche Lieder. Der geöffnete Instrumentenkoffer geöffnet vor ihm auf dem Boden. Ein zahnloser, weißhaariger Mann sitzt auf dem Gehweg und versucht eine Crackpfeife anzuzünden. Ein van Gogh auf dem linken Arm einer Frau. Working Class Hero am Wasserhäuschen. Ein Geldbeutel wird „geklaut“ und wiedergefunden. Rock `n Roll.

Spaziergangstagebuch 8

16.03.22

Kein schöner Spaziergang

Ernst,May-Platz, Wallanlagen, Opernplatz, Mainzer Landstraße, Hoechst

Leider war das Wetter nicht so sonnig wie angekündigt. Eher trüb und diesig präsentierte sich der Himmel. Saharastaub über Frankfurt. Aber egal, ich zog meine alten Laufschuhe an und machte mich auf den Weg. Es war trocken und das ist das Wichtigste.

Angeregt durch einen Artikel in der FAZ wollte ich die Mainzer Landstraße entlang spazieren, bis nach Hoechst. Über Hoechst hörte ich immer nur, dass die Altstadt sehr schön sei. Es ist lange her, dass ich dort war. Und von der Mainzer kannte ich nur den Abschnitt im Bankenviertel und ein wenig die Gegend rund um die Galluswarte. Erst am Opernplatz zu starten kam mir nicht in den Sinn. Es war klar, dass ich von meiner Wohnung losgehen würde, am Ernst-May-Platz. Von Osten ganz nach Westen, einmal durch die Stadt.

Zunächst altbekannte und oft gegangene Wege. Beim Fein, einem Lieblingsort, zur Stärkung einen Cappuccino. Weiter durch die Wallanlagen, der Frühling zeigte sich, jedoch noch vorsichtig. Endlich am Opernplatz. Anschließend die Taunusanlage, früher Treffpunkt sämtlicher Junkies der Stadt, mittlerweile eine aufgeräumte Grünanlage mit teilweise schrecklicher Kunst inmitten des Bankenviertels. Direkt anschließend die Mainzer Landstraße. Acht Kilometer auf einer weitgehend schnurgeraden, wenig attraktiven Straße lagen vor mir. Keine sehr verlockende Aussicht. Aber einen schönen Spaziergang hatte ich auch nicht erwartet, im besten Falle einen interessanten und überraschenden.

Die Skyline interessiert mich nicht so besonders. Klar, ein beliebtes Photomotiv, das ich aber nur selten ablichte, andere machen das zuhauf. Von diesen Häusern geht kein Leben aus. Nachts sind sie tot. Mich interessiert Frankfurt da, wo es aussieht wie Hannover, Stuttgart oder irgendeine beliebige andere Stadt. Aber wenn ein angenagtes Hochhaus der Sparkasse aus den sechziger Jahren seinen letzten Tagen entgegengeht, während im Hintergrund der Hauptturm des Quartiers „Four“ in den Himmel wächst, dann finde ich dass das schon ein Photo wert ist. Hier zeigt sich Umbruch, Anfang und Ende sowie Veränderung. Ob zum Besseren sei dahingestellt. In Höhe der Deutschen Bank ein weißes Ghoastbike, in Gedenken an einen 57-jährigen Radfahrer, der dort am 26.09.2019 zu Tode gekommen ist. Leider sind viele dieser Räder am Straßenrand zu sehen. An der Hausnummer 23 fällt ein Rohbau auf. Bautätigkeit ist keine zu beobachten. Die vierspurige Mainzer dient auch als Grenze zwischen dem vornehmen Westend und dem etwas verruchten Bahnhofsviertel.

Südlich, in der Verlängerung der Moselstraße, ist der Holbeinsteg zu sehen, der vom Bahnhofsviertel zum Städel über den Main führt. Kurz Fluchtreflexe, vielleicht doch eher längs des Mains nach Hoechst zu spazieren. Aber ich blieb an dieser ungastlichen Straße. Nach wenigen Metern der „Platz der Republik“, eine riesige Kreuzung. Sinnbildlich für die Autorepublik Deutschland. Ich muss an den „Marktplatz“ in Offenbach denken, der ja auch alles andere ist als ein Marktplatz, sondern ebenfalls eine stark befahrene Kreuzung. Aber wenigstens wird die ja inzwischen umgebaut. Rechts, in der Düsseldorfer Straße, ist gut das alte Polizeipräsidium zu sehen, dass ebenfalls dem Tod geweiht ist. Vor vielen Jahren war ich mal drin. Ich arbeitete noch beim Suhrkamp Verlag und in diesem Gebäude fand die Buchmessenparty des Verlages statt. Es war sehr charmant.

Ab diesem „Platz“ verändert sich die Mainzer, das Geldviertel endet hier. Weniger Bankentürme, weniger Glitzer, weniger edle Restaurants. Vorbei an Baustellen, von Norden ist das Skyline Plaza zu sehen, das Einkaufszentrum, das den Beginn des Europaviertels markiert (im Spaziergangstagebuch 6 das Thema). Gerne hätte ich im Café Ernst bei Kaffee und Kreppel pausiert, aber es war geschlossen. Also weiter, vielleicht ergab sich ja auf dem weiteren Weg eine andere Gelegenheit. Rechterhand schweift der Blick ins Gallusviertel. Erneut Fluchtgedanken, ob ich nicht meinen Weg über die parallel führende Frankenallee weiterführen soll. Aber ich blieb der häßlichen Straße treu. Habe im Laufe der Jahre gelernt, dass Häßlichkeit zu einer Stadt gehört, mithin wichtig ist. Aber das wäre ein eigenes, wohl auch sehr interessantes Thema, dass mir bereits länger im Kopf rumspukt. An Baustellen vorbei geht es weiter. Der Baukran ist das wahre Wahrzeichen Frankfurts, so ähnlich hatte es Mark-Stefan Tietze bereits 2014 in den Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten formuliert. Das Gebäude der FAZ mit seiner Klinkerfassade folgt, bald auch die Galluswarte, natürlich mit Wasserhäuschen. Sie kann einem leid tun, auf ihrer engen, vom steten Autoverkehr umnebelten Verkehrsinsel. Ähnlich einem Leuchtturm, der Sturm und Wellen trotzt. Einige Unentwegte stehen trotzdem da und trinken ihr Binding.

Hinter Autohäusern versteckt eine eindringliche Mahnung. Erneut ändert die Straße ihren Charakter. Ab hier verläuft sie zweispurig, von Wohnhäusern gesäumt. Vor einer Mansardenwohnung trocknet Wäsche auf dem Dach, es ist windstill. Der Schriftzug der Adlerwerke überragt die Gegend. Der ehemals größte deutsche Fahrradproduzent, später auch von Nähmaschinen und Autos, diente Nazideutschland als wichtiger Hersteller für Rüstungsgüter, mit massivem Einsatz von Zwangsarbeitern. Erfahrung mit der Produktion für Rüstungszwecke hatte die Fabrik bereits im ersten Weltkrieg gesammelt. Ab dem August 1944 wurde in den Adlerwerken eine Außenstelle des KZ Natzweiler eingerichtet, unter dem Namen Katzbach. Die über 1600 Insassinnen und Insassen wurden als Zwangsarbeiter missbraucht, oft bis zum Tode. Kaum jemand überlebte. Es ist sehr lohnend sich näher mit der Geschichte dieser Fabrik zu beschäftigten. Am 25 März 2022 wird der Geschichtsort Adlerwerke eröffnet.

Folgen wir unserer Straße weiter nach Westen. Autoglas Reifen 24, Dream Haar Studio (ohne Termin), Sportsbar, Döner, Chinarestaurant, Mainzer Grill, Alinis Frischer Fisch und Fisch Imbiss, Pizzeria Prago, Main Chicken. Im Euro Jackpot locken 89 Mio Euro. Die Mainzer wird zur Ausfallstraße mit dem typischen Angebot. Und auch wieder ein Plakat, dass zeigt, weshalb ich froh bin, Fan dieses Vereins zu sein. Charakterlose Wohnriegel erinnern an das nahe Europaviertel. Linkerhand eine kleine Grünanlage, verziert mit einem überaus häßlichen Kunstwerk. „NICHTS BLEIBT WIE ES IST“; lautet die Inschrift. Ich wünsche es dem Klotz. Der Titel des Werks indes macht Hoffnung: „LIVING STONE“. Denn was lebt, stirbt auch.

Überraschend plötzlich eine Reihe von Siedlungsbauten an der Schloßborner Straße. Alte Hellerhofsiedlung ist laut Wikipedia die korrekte Bezeichnung für diesen Ort. Sie wird in der Liste der Kulturdenkmäler des Gallus geführt. Ab hier wird die Mainzer wieder vierspurig. Ein Anwohner harkt, mit T-Shirt und Turnhose bekleidet, den Vorgarten des Mehrfamilienhauses. Ich friere beim Anblick. Weiter geht`s, Tankstellen, Waschanlagen, Burgerbuden, ein Baumarkt säumen meinen Weg. Die Straßenbahnhaltestelle Mönchhofstraße. Oft sehe ich diesen Namen, denn er prangt auf den Straßenbahnen der Linie 14, die am Ernst-May-Platz in Bornheim endet. Von dort fährt sie bis zur dieser ominösen Mönchhofstraße, der Endstation im Westen. Wo das wohl ist, habe ich mich immer gefragt. Jetzt weiß ich es und ich weiß auch, dass es nicht lohnt dort hin zu fahren. Aber ich bin die ganze Strecke der 14 abgelaufen und das macht mich ein kleines bißchen stolz. Hier hört die Stadt auf. Kleingärten mit Fähnchen von Fußballclubs und Heimatländern. Oft auch so zerfleddert, dass nichts mehr zu erkennen ist. In einer Kleingartenanlage eine Werbetafel für die Arabesque Shisha Bar & Lounge. Ich kann sie nirgends entdecken. An einem gesichtslosen Wohnblock die Ukrainische Flagge am Balkongeländer. Die Gegenwart ist überall.

Plötzlich der Stadtteil Nied, ein Ort, den ich nur aus dem Zugfenster kenne. Ein-zwei Mal, als ich mit Kolleginnen und Kollegen als Staffel am Frankfurt Marathon teilgenommen habe – lange ist es her – war in Nied die Wechselstation, oder wie das hieß. Das war`s. Aber immerhin darf ich hier für ein paar hundert Meter der furchtbaren Straße entfliehen, denn sie ist durch einen Wall von dem Ort ein wenig abgetrennt. Zu Hören natürlich immer noch, zu riechen auch. Aber es wird fast schon idyllisch. Als ich wieder auf die Mainzer treffe, werde ich von einem UFO begrüßt. Es gehört zum Jugendzentrum Nied.

An der Kirche Nied lässt mich die Mainzer frei, ich darf zum Mainufer. Erleichterung und Aufatmen. Hoechst schon in Sichtweite. Es dauert nicht mehr lange. Bald das Schloss und der Schlossplatz. Ich habe mein Ziel erreicht. Hier ist es wirklich sehr schön. Ich kehre in eines der drei Wirtshäuser ein, finde einen Platz in Thekennähe und genieße das Zwickelbier vom Hofbräuhaus. Zur weiteren Stärkung bestelle ich eine Gulaschsuppe. Die erinnert allerdings an solche, die an Autobahnraststätten angeboten werden. Allerdings war ich schon seit Ewigkeiten an keiner Autobahnraststätte, vielleicht tue ich ihnen Unrecht. Aber wieso können die Leute in einem solchen Lokal ihre Suppe nicht selbst zubereiten? Naja, das Bier hat entschädigt.

Zurück geht`s mit der S-Bahn. Ich habe 15 Km in den Beinen und die Stadt wieder etwas besser kennen gelernt.

Spaziergangstagebuch 7

13.02.22

Eine runde Sache. Von Bornheim, durch die Gartensiedlung Riederwald, das Enkheimer und Berger Ried nach Bergen und über den Lohrberg und durch Seckbach zurück nach Bornheim.

Der Sinn stand mir eher nach Couch als nach Spaziergang. Ich hatte hundsmiserabel geschlafen und war sehr müde. Das Wetter sprach jedoch eine andere Sprache. Sonne, fast wolkenlos. Also überwand ich den Schweinehund, zog die Schuhe an und stiefelte los. Klarer Himmel, die Sonne hatte schon etwas Kraft, der Frühling streckte seine Fühler aus. Ich ließ mich gerne einfangen. Klare Luft, weiter Blick. Im Norden sogar die Windräder der Hohen Straße zu erkennen. Wie oft bin ich dort schon vorbeigeradelt. Das Radfahren darf in diesem Jahr nicht wieder zu kurz kommen, wie im letzten. Ich ging nach Osten, zunächst am Bornheimer Hang das Stadion des glorreichen Viertligaclubs FSV Frankfurt passiert. Einige Jahre hatte der Verein in der zweiten Liga gespielt, da war ich gelegentlich auch mal im Stadion. Als Knirps spielte ich auch mal Fußball, bei Germania 94 in Sachsenhausen. Immer wenn ich nicht wusste, wohin mit dem Ball, und das war meistens so, spielte ich ihn ins Aus. Ich habe wohl auch nur einmal gespielt, weiß auch nicht mehr, ob ich später noch zum Training gegangen bin. Vielleicht hatten meine Eltern ein Einsehen und gemerkt, dass Fußball nichts für mich ist. Eventuell hat sich damals schon meine Abneigung gegen Vereine und regelmäßiges Training entwickelt. Eine Amsel scharrt im trockenen Laub.

Ich entfliehe der grässlichen Straße Am Erlenbruch und tauche ein in die schöne Gartensiedlung Riederwald, bis sie mich am Torhaus wieder ausspuckt. Mir lief leicht die Nase. Ich hatte aber tatsächlich Taschentücher vergessen und fragte mich, wie das passieren konnte. Seit Tagen ist meine Nase im Dauerlaufmodus. Nun gut, es war so.

Eine rot-weiss gestreifte Schranke markiert den Eingang zum Enkheimer Ried. Die nächsten Kilometer geht es nur durch Natur. Vor ungefähr einem Jahr war ich zum ersten Mal hier, auch in dieser Jahreszeit. Kahle Äste überall, die aber einen weiten Blick gestatten. Eine einsame Schaukel baumelt an einem Ast. Radfahrer überholen mich, ich gehe auf der Strecke nach Maintal und weiter nach Hanau. Bald werde ich hier mal mit dem Rad entlangfahren. Das Enkheimer Ried ist Teil des Grüngürtels rund um Frankfurt. Innerhalb des Grüngürtels fallen immer wieder sehr lustige Skulpturen auf, für die Künstler der Neuen Frankfurter Schule verantwortlich zeichnen. Hier wacht in luftiger Höhe die dicke, grüne Raupe von F.K Waechter. Vor einem Jahr bin ich achtlos drunter hergegangen. Weitere bekannte Exponate sind das Ich-Denkmal von Hans Traxler kurz vor der Gerbermühle am Main oder das Grüngürteltier von Robert Gernhardt an der Nidda. Achim Frenz, der Leiter des Caricatura Museums in Frankfurt, schrieb einst in einem Facebook-Kommentar, ohne die Spaziergangswissenschaft, die der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt entwickelt hat, würde es die komische Kunst im Grüngürtel nicht geben.

Das Enkheimer Ried ist ein Paradies für Vögel. Ich lerne, dass Nachtigallen Bodenbrüter sind, weshalb Hunde an der Leine zu führen sind. Der starke Regen der letzten Zeit hat überall seine Spuren hinterlassen. Ein Familie mit kleinem Kind trottet lautstark den Weg entlang. Ich beeile mich, Distanz zu ihnen zu gewinnen. Der Regen der letzten Tage hat überall seine Spuren hinterlassen. Aus dem Gehölz ragt der niedrigste Hochsitz, den ich jemals gesehen habe. Ein Stück weiter taucht rechterhand ein kleiner See auf, der mir, ähnlich der Dicken Raupe, im letzten Jahr auch entgangen war. Auch hier war Unachtsamkeit der Grund. Der Weg endete dann. Ich stand vor einer Straße und einer Baustelle. Wo war ich? Das Navi leitete mich auf den rechten Weg zurück. Es war nicht weit. Ich hatte mich verlaufen, dabei aber einen mir bislang unbekannten See entdeckt.

Die Zahl der Sonntagsspaziergänger wächst. Ein unsichtbarer Specht trommelwirbelt durch den Wald, Rechts mündet der Nachtigallenweg, der Riedweiher liegt ruhig. Ich verlasse das Enkheimer Ried und überquere die imaginäre Grenze zum Berger Ried. Auf dem Hügel thront Bergen, die bessere Hälfte von Bergen-Enkheim. Von nun an geht`s bergan, auf teils schlammigen Wegen.

Der Blick ist frei, über Skyline bis Stadtwald. Winzig ragt der Goetheturm empor. Dahinter der Odenwald, im Osten das Kraftwerk bei Hanau und am Horizont die Ausläufer des Spessart. Leider muss ich den Weg verlassen und der Straße nach Bergen bergan folgen. Am Straßenrand ein „Unfalldenkmal“. In der FR lese ich am nächsten Tag, dass es eine temporäre Aktion ist, zur Mahnung an Autofahrer, sich an Geschwindigkeitsgrenzen zu halten. Initiiert von irgendwelchen BFF Leuten, was mich sofort stutzig macht. Sinnlos wohl auch, denn lesen können die mahnenden Hinweise nur Fußgänger und von denen gibt`s hier nicht viele. Die meisten brettern mit Autos vorbei und werden die Installation wohl kaum wahrnehmen. In einem Vorgarten ein Wegweiser, der die Entfernung nach Berlin anzeigt. Sehnsuchtsvolle Gedanken, ich muss wohl bald mal wieder hin. An der Marktstraße kaufe ich mir beim Wasserhäuschen ein Bier. Wegbier gehört normalerweise nicht zu meiner Ausstattung, aber ich habe Durst und es schmeckt. Bald bin ich auf dem Lohrberg und werde mit einem beeindruckenden Ausblick belohnt. Ein Mann mit Helm schlängelt sich auf einen elektrischen Skateboard über die Wege. Wieso? Die Lohrbergschänke erwartungsgemäß dicht belagert. Ich gehe weiter durch eine Kleingartensiedlung bergab nach Seckbach. Eine gute Freundin hatte dort einst einen Garten. Ich war einmal da, wir haben in der Sonne Tee getrunken. Die Autobahnbrücke ist das wenig attraktive Tor nach Bornheim. Ein Stück am Bornheimer Hang, ich nähere mich meinem Ausgangspunkt. Frühlingsboten sprießen am Wegesrand. In der Gaststätte Weida gönne ich mir ein weiteres Bier. Ein schöner Spaziergang endet und ich bin froh, den Verlockungen der Couch nicht erlegen zu sein

Über Alfred Kazin oder Ein Autor, der (neu) entdeckt werden sollte

Im Rahmen von Recherchen zu der von mir herausgegebenen Anthologie Die Kunst des Gehens (marixverlag, Wiesbaden, 2019), stieß ich auf einen Autor, dessen Namen ich noch nie zuvor gehört hatte. Ich las das Buch in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt und war fasziniert. Der Mann ließ mir keine Ruhe mehr, ich beschäftigte mich intensiver mit ihm und seinem Werk. Sein Name ist Alfred Kazin. Das Buch, das ich las, heißt Meine Strassen in New York, im amerikanischen Original A Walker in the City. Erschienen war die deutschsprachige Ausgabe im Walter Verlag, Olten und Freiburg, 1966. Sehr aufwendig gestaltet, Leinen, Fadenheftung, Bleisatz, tolles Schriftbild mit einem schlichten aber schönen Umschlag, der nochmal mit einem Kunststoffschutz umgeben. Ein Vergnügen, dieses Buch in der Hand zu halten und zu lesen. Ich bestellte es antiquarisch und bekam eine Ausgabe in bestem Zustand. Das amerikanische Original, das noch heute lieferbar ist, bestellte ich ebenfalls.

Alfred Kazin war ein amerikanischer Literaturwissenschaftler und Kritiker. Er wurde am 5. Juni 1915 als Sohn polnisch-russischer Einwanderer in New York geboren. Seine Mutter war Schneiderin, sein Vater Anstreicher. Aufgewachsen ist Kazin in Brownsville, einem armen Stadtteil von Brooklyn, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Großteil jüdisch geprägt war. Man sprach vom „Jerusalem Amerikas“ oder auch vom „American Shtetl Brunzvil“.

1942 veröffentlichte Kazin im Alter von 27 Jahren eine dreibändige amerikanische Literaturgeschichte unter dem Titel On Native Grounds, die die Jahre 1860 – 1940 behandelt. (Gekürzte deutsche Ausgabe als Amerika – Selbsterkennung und Befreiung, Karl Alber Verlag, Freiburg, München, 1951). Diese Veröffentlichung machte ihn zu einem anerkannten Intellektuellen in New York und darüber hinaus. Kazins Lebenslauf ist daher dem von Didier Eribon (Die Rückkehr nach Reims) ähnlich, der sich ebenfalls aus seiner ärmlichen Herkunft buchstäblich herausgelesen hatte und zu einem der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs wurde. Die New York Times schrieb im Nachruf auf Kazin: „He escaped the poverty of his youth trough the pages of books.“

Von 1952 an lehrte er als Gastprofessor an diversen amerikanischen Universitäten. In den 60iger Jahren war Kazin der wichtigste Rezensent der USA. Kritiken und Essays erschienen unter anderem im New Yorker. Neben diesen Tätigkeiten schrieb er sein Leben lang Tagebücher und autobiographische Texte. 1951 erschien der erste Teil dieser Autobiographie, A Walker in the City. 1965 folgte Starting out in the Thirties und 1978 New York Jew. Alle drei Bände sind bis heute in den USA lieferbar. 2011 wurde bei Yale University Press unter dem Titel Alfred Kazin`s Journals eine Auswahl aus den sechs Bänden der Tagebücher veröffentlicht. Alfred Kazin ist ein moderner Klassiker der amerikanischen Literatur.

Sich selbst bezeichnete er als „a child of Jewish history und literary journalist“. Kazin hielt sich auch regelmäßig in Deutschland auf, unter anderem lehrte er Anfang der Fünfzigerjahre an der Universität Köln Amerikanistik. Leider waren hierzu keine Dokumente zu finden.

Eine deutsche Ausgabe von A Walker in the City erschien 1966 im Walter Verlag, Olten und Freiburg, unter dem Titel Meine Strassen in New York, übersetzt von Erika Meier. Kazin lebte bereits einige Jahre in Manhattan, als er nach Brownsville zurückkehrte und die Straßen und Umgebung seiner Kindheit und Jugend erneut zu Fuß durchstreifte. In A Walker in the City schildert er sein Heranwachsen in Brownsville. Er beschreibt eine untergegangene Welt und ihre Bewohner, denen der Sozialismus näher steht als die Religion. Es geht um das Stummfilmkino, die heruntergekommene Synagoge sowie den Überlebenswillen der armen Bevölkerung, die sich mit Humor und Lebensenergie über Wasser zu halten versucht. All das ist eine liebevolle Hommage an das jüdische Leben und die Umgebung, in der dieses Leben stattfindet. Mit aufmerksamem, genauem Blick und Empathie beschreibt Kazin die Welt und die Menschen seiner Kindheit und Jugend. Kazin war Stotterer und notierte: „Es bedrückte mich, daß ich nur in einsamen Straßen laut und ungehemmt sprechen konnte.“ (S. 35).

A Walker in the City handelt von New York, von Migration und von jüdischem Leben aus der Sicht eines Beteiligten und Flaneurs. Es ist vergleichbar mit Texten berühmter Flaneure wie beispielsweise Franz Hessel, Spazieren in Berlin, Louis Aragon, Der Pariser Bauer, Léon-Paul Fargue, Der Wanderer durch Paris sowie Walter Benjamin, Berliner Kindheit um 1900. Daher ist das Buch auch aus heutiger Sicht aktuell und lesenswert. Eine literarische Entdeckung.

Alfred Kazin verband eine jahrelange Freundschaft mit Hannah Arendt. Sie lernten sich 1946 auf einer Dinerparty in N.Y. kennen. Für die nächsten 10 Jahre sollte Arendt und Kazin eine innige Freundschaft verbinden, die sich auch in insgesamt 40 Briefen manifestierte. Der letzte Brief datiert vom 24. Mai 1974 und enthält Genesungswünsche Kazins an Hannah Arendt. Es sind vorwiegend kurze Briefe. Arendt und Kazin waren quasi Nachbarn und haben sich regelmäßig gesehen. Da gab es nicht so viel zu schreiben. Dieser Briefwechsel ist komplett im Netz nachzulesen.

Anfang der 60iger Jahre entfremdeten sie sich allerdings wieder. Die genauen Gründe für diese Entfremdung sind nicht bekannt, sie könnte aber durch Arendts Bericht Eichmann in Jerusalem ausgelöst worden sein, über den Kazin schrieb, der Tonfall, in dem sie über die Ermordeten schrieb „made me suffer“. Dennoch waren die Jahre ihrer engen Freundschaft für beide Seiten überaus fruchtbar. Arendt hatte den ersten Teil von Kazins New-York-Trilogie A Walker in the City, um den es hier geht, durchgesehen und teilweise korrigiert. Kazin seinerseits vermittelte Arendts Manuskript ihres Totalitarismus-Buches an den amerikanischen Verlag Harcourt and Brace, der das Buch dann auch veröffentlichte. Er hatte zuvor ebenfalls das Manuskript redigiert.

Alfred Kazin starb an seinem 83. Geburtstag 1998 in New York. Philip Roth sagte über ihn: „He was America`s best reader of American Literature in his century.

Vielleicht hat er seinen Himmel ja so vorgefunden, wie er ihn sich gewünscht hat: „My idea of heaven is to settle down in a jet with a book, a notebook and a martini.“

Es wäre überaus zu begrüßen, dieses Buch, und vielleicht auch weitere, neu zu übersetzen und zu veröffentlichen. Ich schrieb ein Exposé, das in diesen Text eingeflossen ist, kopierte aus der deutschen und der amerikanische Ausgabe die entsprechenden Kapitel und ließ alles zu einer Mappe binden. Diese Mappe gab ich dem Autor und Übersetzer Henning Ahrens, der folgendes dazu anmerkte: „…habe mir nun endlich den Kazin angeschaut: Ein sehr charmantes, anschauliches Buch, gar nicht nostalgisch, obwohl es sehr liebevoll ist. Ich war sofort drin, und damit auch im New York jener Zeit. Man kann es noch heute mit Gewinn und Vergnügen lesen, denke ich.“

Im Laufe weiterer Recherchen stieß ich auf eine Großnichte Kazins. Sie war 1993 nach New York ausgewandert, und zwar aus Frankfurt, der Stadt, in der ich wohne. Dort lebt sie als Fotografin. Viel mehr war nicht in Erfahrung zu bringen, keine Website, kein Facebook, kein Twitter, geschweige denn eine Mailadresse. Schließlich entdeckte ich sie auf Instagram, und folgte ihr sofort. Dort zeigt sie regelmäßig ihr Straßenfotografie. Ich war begeistert, endlich eine Spur, denn sie hat schon fünf Jahre in New York gelebt bevor ihr Großonkel dort gestorben ist. Möglicherweise hat sie ihn in dieser Zeit getroffen. Ich versuchte, sie über Instagram anzuschreiben. Das klappt fast nie, wenn das Gegenüber nicht ebenfalls folgt. Es gab also keine Reaktion. Dann, irgendwann, folgte sie mir auch, worüber ich sehr erfreut war. Gelegentlich liked sie sogar meine Fotos. Das machte mir Hoffnung. Ich schrieb ihr erneut, aber wieder keine Reaktion. Das ist aber kein Grund, es nicht erneut zu versuchen.

Es wird Zeit, dass sich ein deutschsprachiger Verlag findet, der sich Alfred Kazin widmet und diesen wunderbaren Autor dem deutschsprachigen Publikum bekannt macht. Verdient hätte Kazin es alle Mal. Für ein literarisch interessiertes Publikum wäre es ein Gewinn, und für den Verlag möglicherweise auch.

P.S. Die von mir ausgewählte Passage ist leider nicht in der Anthologie enthalten. Die Rechte seien zu teuer gewesen, sagte der Verlag.